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Interner Bereich, Filmwahl und mehr...
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Die Deutsche Akademie für Fernsehen – kurz DAFF – wurde im Dezember 2010 gegründet mit dem Ziel, den Kreativen in den unterschiedlichen Gewerken von der Entwicklung bis hin zur Herstellung von deutschen Fernsehprogrammen eine eigene Stimme zu verleihen. Wir verzeichnen derzeit knapp 800 Mitglieder.
Die DEUTSCHE AKADEMIE FÜR FERNSEHEN soll in der öffentlichen Diskussion über die Medien und ihre Inhalte zu einer Stimme der Fernsehschaffenden werden und das Bewusstsein für die kreativen und künstlerischen Leistungen derjenigen, die die Fernsehprogramme gestalten, fördern und stärken.
Zweck laut Satzung der DEUTSCHEN AKADEMIE FÜR FERNSEHEN ist die Entwicklung des deutschen Fernsehens als wesentlichen Bestandteil der deutschen Kultur sowie der deutschen Kulturwirtschaft zu fördern und deren Vielfalt zu erhalten, das Gespräch und den Austausch von Ideen und Erfahrungen zwischen den deutschen Fernsehschaffenden insbesondere auch zwischen freiberuflichen und in Sendern festangestellten anzuregen, zu stärken und zu pflegen, den Diskurs zu inhaltlichen und wirtschaftlichen Aspekten des deutschen Fernsehens zu führen.
Dazu werden öffentliche Veranstaltungen zu kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Themen im audiovisuellen Bereich organisiert, Weiterbildungsveranstaltungen für im audiovisuellen Bereich tätige Personen unter Leitung von Mitgliedern des Vereins oder externen Experten durchgeführt, und die Verleihung einer Fernsehauszeichnung, gegebenenfalls mit noch zu bestimmenden Partnern, vorbereitet und durchgeführt.
Die Akademie hat ihren Sitz in Berlin und München. Sie wird allen kreativen Fernsehschaffenden mit langjähriger Erfahrung und besonderer Leistung bei der Herstellung deutscher Fernsehwerke aus den Bereichen Fiction, Non-Fiction, Unterhaltung und Journalismus offen stehen.
Ab 2024 ist der normale Beitragssatz € 180, in Ausnahmefällen ist er reduziert.
Bitte beachten Sie unsere angepassten Mitgliedsbeiträge ab Januar 2024.
Diese entnehmen Sie der aktualisierten Beitragssatzung unter https://daff.tv/wp-content/uploads/2023/09/Beitragsanpassung_Anlage3_MVDAfF_2023_final.pdf
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Empfänger: Deutsche Akademie für Fernsehen e.V.
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Der Befund ist eindeutig: Die ö/r Sender sind durch die Konkurrenz von Netflix & Co in die Defensive geraten. Innerhalb weniger Jahre ist – nicht nur bei jüngeren Menschen – ein Meinungsklima entstanden, das den kommerziellen Streamingdiensten mehr Relevanz, Brisanz und Originalität zuschreibt als den traditionellen Sendern, die Privaten inbegriffen.
Noch scheint die Unverzichtbarkeit und damit auch die Finanzierung der ö/r Sender von den meisten politischen Parteien nicht grundsätzlich in Frage gestellt zu werden. Aber in privaten Unterhaltungen über das individuelle Freizeitverhalten wird überdeutlich: Die Programme der Online-Anbieter sind angesagt und beherrschen den Diskurs, die Programme der ö/r Sender dagegen gelten als verstaubt oder – schlimmer noch – sind gar kein Diskussionsthema mehr. Wie konnte das geschehen angesichts des gigantischen Potenzials der ö/r Anstalten an ökonomischen Ressourcen, jahrzehntelangem Erfahrungsvorsprung und vielen hochqualifizierten Programm-MacherInnen?
Die Diagnosen für diese fatale Entwicklung sind vielfältig (und oft interessengeleitet). Als da genannt werden: verkrustete Strukturen in den Sendeanstalten; eine garantierte Beitragsfinanzierung, die Sattheit und Ideenarmut zur Folge hat; politische Einflüsse von Landesregierungen und Parteien; Cliquenwirtschaft und Seilschaften etc. etc. Meist stehen politische, institutionelle, administrative oder personenbezogene Erklärungsmuster im Vordergrund der öffentlichen Debatte. Einem wichtigen Grund für die derzeitige Krise der ö/r Sender scheint mir dabei jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt zu werden: Dem Durchschnitt, der als Leitbild das Denken und Handeln in den Sendern beherrscht. Ich möchte mich hier daher auf die Frage konzentrieren, wie es zu dieser alles dominierenden Durchschnittsideologie kommen konnte und welche konkreten Schritte notwendig wären, um sich von ihr zu befreien.
Der Zufall wollte es, dass mein Dienstantritt als ö/r Redakteur am 1. Januar 1984 auf genau denselben Tag fiel wie der Beginn des deutschen Privatfernsehens. (Mein oberster Chef damals, ZDF-Intendant Dieter Stolte, sprach später daher gern von einem »historischen Datum« für das Fernsehen in Deutschland).
Die sehr bescheidenen Anfänge in Gestalt des Kabelpilotprojekts Ludwigshafen schienen zunächst keine Gefahr für die bereits jahrzehntelang etablierten Sender ARD und ZDF darzustellen, angesichts kaum messbarer Zuschauerzahlen und eines pannengespickten, dilettantischen Programms. Das Kürzel APF für die Nachrichtensendung von SAT.1 (»Aktuell Presse Fernsehen«) wurde in der ZDF-Kantine als »Amateure proben Fernsehen« verspottet.
Im Laufe der 80er und frühen 90er Jahre setzten sich die Sender RTL plus (später ohne »plus«), SAT.1 und ProSieben aber endgültig durch und im Bewusstsein der (west)deutschen Öffentlichkeit fest, da sich das Programm schnell als aufreizender (Tutti Frutti), markenprägender (GZSZ) und, doch, doch, auch intelligenter (RTL Samstag Nacht) als gedacht erwies. Vor allem freilich konnten durch die von der Politik forcierte Ausweitung der technischen Verbreitungswege[1] immer größere Zuschauerzahlen generiert werden.
Ich habe eine Disruption der Fernsehlandschaft durch eine neu entstandene Konkurrenzsituation also schon einmal hautnah erlebt – zumal sich das Gebäude von SAT.1 zunächst auf dem Lerchenberg in unmittelbarer räumlicher Nähe zum ZDF befand.[2]Die Reaktion seitens der ö/r Anstalten auf die Etablierung der zuvor nie dagewesenen und daher nicht gekannten Konkurrenz verlief nach meiner Beobachtung in mehreren Phasen:
Ignorieren > Belächeln > Vergleichen > Geringschätzen > Staunen > Imitieren > Reformen ankündigen >Schulterschluss mit früheren Konkurrenten suchen > Panik
Die ö/r Sender überlebten damals, trotz regelmäßig auflodernder Untergangsszenarien, ja blieben im Großen und Ganzen unverändert, wenn man von zwei Fusionen (ORB/SFB zu RBB und SDR/SWF zu SWR), vom Auftauchen und teilweise wieder Verschwinden von Derivatsendern und vor allem natürlich vom Hinzukommen der Sender in den neuen Bundesländern absieht, die aber nahtlos in die ARD eingefügt wurden.
Spätestens seit dem Aufkommen der Privatsender wurde die Kritik am ö/r System in Deutschland lauter und schärfer. War es bis dahin vor allem die politische Einflussnahme auf Gremien und Programm gewesen, dem sich Intendanten (Intendantinnen gab es damals noch nicht) und Programm-MacherInnen erwehren mussten, stellte sich nun immer öfter und immer vernehmlicher die Sinnfrage: Wenn die Privaten sich selbst finanzieren und vergleichbare Marktanteile aufweisen, wofür braucht es dann überhaupt noch die ö/r Anstalten? Den Widerstand aus der Politik, in Deutschland in massiver Weise hauptsächlich aus dem Lager der AfD, verspüren ö/r Sender europaweit:
Im Vereinigten Königreich stellte die sehr kurzzeitige Kulturministerin Nadine Dorries, die insofern eigene TV-Erfahrung vorweisen kann, als sie selbst schon einmal Dschungelcamp-Teilnehmerin war, kurzerhand die Existenz der BBC in Frage. Der BBC, der Mutter aller Öffentlich-Rechtlichen!
Das französische Parlament stimmte dafür, die »Redevance«, also die TV-Abgabe, die bisher zusammen mit der Einkommenssteuer einbehalten wurde, nicht weiter zu erheben. (In Frankreich musste man in der Steuererklärung bisher explizit angeben, dass man über kein Fernsehgerät verfügt, wenn man von der Zahlung befreit werden wollte und ging widrigenfalls das Risiko ein, sich eines Steuervergehens schuldig zu machen). Die zukünftige Finanzierung von France 2 und France 3 steht in den Sternen.
In der Schweiz wurde eine Volksabstimmung zur Abschaffung der Fernsehgebühren auf den Weg gebracht, die freilich überraschend deutlich scheiterte. Die Liste der Angriffe auf das ö/r System in Europa ließe sich leicht noch weiter verlängern.
Eine Gruppe amerikanischer Studierender, denen ich vor vielen Jahren einmal die Vorzüge des »public television« nahezubringen versuchte, konfrontierte mich mit der entwaffnenden Frage: »Why don’t you just give the people what they want to see«. Eine Antwort ist möglich, aber kompliziert.
Gegenfrage: Wollen wir stattdessen die Macht über die Medien und die Plattformen – und damit den öffentlichen Diskurs – von sich selbst besoffenen Milliardären überlassen? Einem irrlichternden Milliardär wie Elon Musk, der selbstherrlich und – ein vertrautes Mittel diktatorischer Systeme – unter Einbeziehung von Pseudo-Referenden entscheidet, wer Tweets verbreiten darf und wer nicht.[3] Oder einem sich bildungsbürgerlich gerierenden Milliardär wie dem Springer-Chef Mathias Döpfner, der nicht nur wirre Mails und Videos verschickt, sondern auch seine BILD-Redaktion anweist, die FDP zu »stärken«[4] und eine gnadenlose Kampagne gegen die Firma Adidas zu starten, weil diese in der Corona-Zeit ihre Ladenmieten nicht mehr bezahlte. Dass Döpfner selbst privat Mitbesitzer einer Immobilie ist, die deswegen Mietausfälle hatte, blieb in den Springer-Medien selbstverständlich unerwähnt.[5]
Oder einem zynischen Milliardär wie Rupert Murdoch, der seit Jahrzehnten in der britischen, australischen und amerikanischen Politik mitmischt und seinen US-Sender Fox News hemmungslos Donald Trumps Wahlbetrugslügen verbreiten ließ, intern aber per SMS bekundete, dass er selbst Trumps Behauptungen für »really crazy stuff« hielt, was er später vor Gericht einräumte.[6]
Diese drei verbindet dabei interessanterweise nicht nur ihr Milliardärsstatus, sondern auch ihre Sympathie für Populisten und ihre Verachtung für demokratische Werte.[7] Man muss keine marxistische Sozialisation genossen haben, um hier eine innere Logik zu erkennen.
Genau wie die Macht im Staate durch Gewaltenteilung begrenzt werden muss, damit es nicht zu autokratischen Verhältnissen kommt, darf auch die Macht über die Medien nicht in die Hände Einzelner gelangen, sondern muss durch eine delikate Balance von redaktioneller Entscheidungsgewalt und deren Kontrolle durch Unabhängige gewährleistet werden.[8]
Dafür ist das britische Modell der Medienkontrolle durch eine vielfältige Vertretung gesellschaftlicher Interessensgruppen, wie es nach dem Krieg den Deutschen zu ihrem Glück aufgezwungen wurde, eigentlich bestens geeignet. Dass dies nicht immer funktioniert, siehe den Skandal beim RBB mit seiner ungebremsten Selbstbedienungsmentalität in der Führungsetage und dem Filz zwischen Intendanz und Verwaltungsrat, spricht nicht grundsätzlich gegen das Modell. Entscheidend für das Funktionieren ist nicht, ob es zu solchen Affären kommt, sondern vielmehr, ob sie aufgeklärt und dann systematisch Konsequenzen daraus gezogen werden.
Noch dreht sich in Deutschland die politische Debatte im Wesentlichen um die Höhe der Rundfunkgebühr – etwa in Sachsen-Anhalt – also um die individuellen Kosten für die einzelnen BeitragszahlerInnen.[9] Doch wäre es angeraten, dass sich die Sender rechtzeitig auf stärkeren Gegenwind, wenn nicht sogar auf einen umfassenderen Sturmangriff von Seiten der Politik einstellen, denn es ist absehbar, dass sich die Lage verschärft. Neben der Tatsache, dass Beiträge bei niemandem beliebt sind und daher nicht auf fortwährende Unterstützung durch die politischen Parteien gebaut werden kann, kommt nun noch hinzu, dass sich das oben erwähnte Meinungsklimas für die ö/r Anstalten immer ungünstiger gestaltet. Dieses wiederum wird wesentlich dadurch beeinflusst, dass jeder und jede inzwischen Erfahrungen mit alternativen Angeboten, nämlich den Streamingdiensten wie Netflix, Prime Video, Disney+, Apple TV+ oder WOW machen konnte. Und der Vergleich mit den Streaming-Anbietern fällt für die traditionellen Sender immer häufiger nicht sehr schmeichelhaft aus.
Ende 2020 gab ich anlässlich meines Abschieds von ARTE der Süddeutschen Zeitung ein Interview, das mit folgender Schlagzeile betitelt wurde: »Der Kern allen Übels: Die Quote«.[10] Das konnte nun so wirken, als lehnte ich grundsätzlich die Messung von Zuschauerakzeptanz ab. Eine solche Geisteshaltung wird ö/r Redakteuren, namentlich denen von inhaltlich ambitionierten Sendern und Programmsparten, ja gerne unterstellt. Aber das ist nicht der Punkt, denn ich habe noch nie eine Programmverantwortliche oder einen Programmverantwortlichen kennengelernt, die oder der sich nicht ein möglichst großes Publikum für die mit großem Aufwand und Liebe zur Sache erstellten Programme wünscht.[11]
Aus meiner Sicht ist der Kern allen Übels vielmehr die Verengung des Blickwinkels in den Planungsabteilungen und Leitungsebenen der linearen Sender, die Sucht nach möglichst großen durchschnittlichen Marktanteilen und, damit Hand in Hand gehend, die panische Angst vor – mutmaßlich – riskanten Programmen.[12]
An dieser Stelle muss ich kurz einige Begrifflichkeiten klären, die in der öffentlichen Diskussion (nicht in den Medienforschungsabteilungen der Sender!) häufig vermengt werden.[13]
Um dies durch ein Beispiel zu veranschaulichen: Ein Programm, das um 24 Uhr von 1 Million Menschen in Deutschland gesehen wird, weist logischerweise einen höheren Marktanteil auf als ein Programm, das dieselbe Zahl von ZuschauerInnen um 20 Uhr erreicht. Ganz einfach, weil zur Primetime um 20 Uhr insgesamt weit mehr Menschen fernsehen als um Mitternacht.
Es ist, so meine Überzeugung, die Fixierung auf den durchschnittlichen Marktanteil, die den Eindruck von Uniformisierung, Banalisierung und Nivellierung erzeugt, dagegen aber jeglicher Form von Grenzüberschreitungen, Konventionsbrüchen, Provokationen, Innovationen, Überraschungen und Extravaganzen im Wege steht, also genau dem, was ein Programm sexy macht.
Ich spreche bewusst vom »Eindruck«, den viele von den ö/r Sendern haben. Denn es gibt bei ARD und ZDF, den Dritten Programmen, auf 3sat, phoenix und ARTE ja hervorragende Programme in Hülle und Fülle. Aus dem Gedächtnis hier einige Beispiele aus jüngerer Zeit[15] von Programmen unterschiedlichster Genres (berufsbedingt allerdings mit einem Schwerpunkt auf Unterhaltung und Fiction), fast ausnahmslos alle von ZDF, ARD und ARTE (ko)produziert:
»Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs«, »Reeperbahn Spezialeinheit FD65«, »Merz gegen Merz«, »Kroymann«, »Born in Evin«, »Die Carolin-Kebekus-Show«, »Afrikas neue Museen«, »ZDF Magazin Royale«, »Kurzstrecke mit Pierre M. Krause«, »Geheimsache Katar«, »Das Begräbnis«, »Der letzte Wille«, »Die Royals und die Nazis, (ZDF-History)«, »Der schönste Junge der Welt«, »Neuland«, »Teheran Tabu«, »Familie ist…?«, »Die Maginot-Linie«, »Toni, männliche Hebamme«, »Being Jan Ullrich«, »Stalingrad – Stimmen aus Ruinen«, »HIP«, »The Tourist«, »Der Tatort-Reiniger« (vor allem die Folge mit den Filzgleitern…), »Hyperland«, »Filmgorillas«, »Der Waldmacher«, »Kranitz – Bei Trennung Geld zurück« und und und.
Das ist eine großartige Vielfalt, auf die man stolz sein könnte und für die man viel mehr trommeln müsste. Denn das tatsächliche Angebot ist das eine. Etwas ganz anderes ist dessen Wahrnehmung.
Netflix hat im alltäglichen Gespräch mit Freunden und Freundinnen, mit Kollegen und Kolleginnen und in der Familie das Image, moderner und attraktiver zu sein und die aufregenderen Programme anzubieten als der Rest der Welt. Im politischen Diskurs gibt es oft die billige Ausrede: »Der Inhalt ist gut, er wird nur schlecht verkauft«. In diesem Fall, beim Angebot der Öffentlich-Rechtlichen, ist die Aussage jedoch zutreffend. Inhalt und Image stehen in einem grotesken Missverhältnis. Wenn man das folgende, bemerkenswerte Zitat der FilmexpertInnen der Süddeutschen Zeitung heranzieht, kann man diese Diskrepanz umgekehrt durchaus auch auf Netflix beziehen:
»Irgendwann wird man auf die Filmgeschichte zurückblicken und merken, dass die größten Namen ihre schlechtesten Filme für Netflix gemacht haben. Jeder dieser Filme ist für sich genommen immer noch besser als das Gesamtwerk der Marvel Studios. Aber was zum Beispiel Martin Scorseses ›The Irishman‹, Spike Lees ›Da 5 Bloods‹ und ›The Ballad of Buster Scruggs‹ der Coen-Brüder verbindet, ist der Mangel an Kohärenz, Timing und Tempo sowie eine künstlerische Selbstverliebtheit bis hart an die Grenze der Arroganz. So fallen auch die Netflix-Filme mit dem Genialitätsvorschuss in ihrem Mittelmaß aus dem Gesamtwerk der Legenden.«
Und auch die Erfahrungen des israelischen Schriftstellers Etgar Keret gießen Wasser in den Netflix-Wein:[16]
»Ich habe mit meiner Frau eine Mini-Serie für Arte gemacht mit dem französischen Schauspieler Mathieu Amalric, der in einigen Wes-Anderson-Filmen oder bei James Bond mitspielte. Ein Grund, warum Netflix nicht zusagte, war, dass sie glaubten, die Serie würde nicht mit ihrem Algorithmus funktionieren.«[17]
Das bedeutet nicht, dass man sich als ö/r Sendermensch in aller Ruhe zurücklehnen sollte und warten, bis sich der Mythos Netflix von selbst erledigt hat. Vielmehr könnte es eine Motivation sein, nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern die Stärken und Schwächen der Streamer genau zu analysieren und von ihnen zu lernen, wie sie es schaffen, attraktive Programme nicht nur zu kreieren, sondern mit diesen auch einen Image-Mehrwert zu erzielen.
Leider werden die Highlights im Angebot der ö/r Sender aber von vielen NutzerInnen nicht gefunden oder gar nicht erst vermutet. Im linearen Programm sind die oben genannten Programme für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung nicht zugänglich, da sie nicht vor 22 oder 23 Uhr ausgestrahlt werden. Man traut ihnen wohl keine große Publikumsresonanz zu, macht sie im Wortsinne unschädlich, da sie zu später Stunde schon rein arithmetisch nur wenig zum Gesamtdurchschnitt des Senders beitragen.[18] Risikominimierung auf Kosten der Attraktivität.
Die Standardrechtfertigung der Sender für diese Praxis lautet: Die Sendezeit spielt keine Rolle, da die Programme ja auch in der Mediathek abrufbar sind. Aber zum einen sind nicht alle Programme tatsächlich online verfügbar.[19] Zum anderen sind diese Programme online in der Regel nur schwer auffindbar: Sie werden kaum oder nicht beworben, sind selten auf der Startseite zu finden und es bedarf eines erheblichen Aufwands an Klicks und Scrolls, um sie überhaupt aufzuspüren. Da für sie linear keine große Quote prognostiziert wird – so die Logik – sind oft auch die Erwartungen an die Online-Nutzung gering.
Es handelt sich dabei jedoch um einen klassischen Zirkelschluss: Weil unkonventionellen, extravaganten, provokativen Programmen wenig Erfolg zugetraut wird, werden sie von der Programmplanung und vom Marketing nicht in den Vordergrund gerückt, wenn nicht sogar versteckt, und, welch Wunder, dann auch tatsächlich weniger geschaut. Die Konsequenz: Trotz der Fülle von präzise recherchierten, phantasievollen, aufregenden und herausfordernden Programmen (in der ARD Mediathek können derzeit fast 200.000 Programme abgerufen werden)[20] herrscht der Eindruck vor, dass das ö/r System nichts zu bieten hat.
Es gibt keine Podiumsdiskussion, keine Festrede und kein Grundsatzpapier unter Beteiligung ö/r Verantwortlicher, in denen nicht darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, dass die Programme – zusätzlich oder exklusiv – online verfügbar sind. Selbstverständlich werden in den Programmredaktionen und in den Senderhierarchien seit Jahren auch die Abrufzahlen der Online-Angebote zur Kenntnis genommen und analysiert. Aber eben getrennt von den linearen Reichweiten. Es gibt keine überzeugende Lösung für das Problem, wie die beiden Zahlenwerte zueinander so in Beziehung gesetzt werden könnten, dass sie ein Gesamtbild ergeben. Wie man hört, ist geplant, ab 2024 einen sogenannten »Marktstandard Bewegtbild« zu etablieren, der einen Überblick über die lineare wie Online-Nutzung ermöglichen soll. Das Problem der Unvergleichbarkeit von linearer und nicht-linearer Nutzung ist aber vermutlich unlösbar. Denn die Inkompatibilität liegt schon ganz banal darin begründet, dass bei der linearen Ausstrahlung der Zeitpunkt der Nutzung festliegt, während Online-Angebote per definitionem zeitversetzt genutzt werden. Ab wann wird dann ein Programm als »gesehen« gewertet? Am Tag danach? Innerhalb einer Woche? Oder erst zum Ende des Rechtezeitraums? Informell hat man sich auf den Zeitraum von zwei Wochen geeinigt – was nur eine von vielen willkürlichen Festlegungen der Marktforschung ist. Aber wen bitte interessiert eine Erfolgsmeldung zwei Wochen nach der Premiere?
Auch ist bei der herkömmlichen Quotenmessung die Sehdauer von entscheidender Bedeutung. Im Sekundentakt wird in den Testhaushalten (in Deutschland sind dies 5.000 Haushalte mit insgesamt ca. 11.000 Personen) gemessen, wer wann welches Programm eingeschaltet hat (ob er oder sie auch tatsächlich schaut, ist noch einmal eine ganz andere Frage). Wenn es also heißt, dass ein Programm von 1 Million ZuschauerInnen gesehen wurde, können es sehr wohl auch 2 Millionen gewesen sein, die allerdings nur jeweils bei der Hälfte der Sendezeit mit von der Partie waren. In den Testhaushalten der GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) in Nürnberg, die für alle TV-Sender die Reichweitenerfassung vornimmt, wird selbstverständlich auch die Online-Nutzung von TV-Programmen gemessen. Da stellt sich jedoch die Frage der Unverträglichkeit der beiden Werte, siehe oben. Technisch wäre es zusätzlich ohne Weiteres möglich, die tatsächliche, individuelle Online-Nutzung von Programmen, zum Beispiel auf Computer, Tablet oder Smartphone, zu erfassen. Dies ist jedoch aus Gründen des Datenschutzes nur bei vorheriger Zustimmung der NutzerInnen zulässig.
Dies führt zu einem weiteren Problem: Bei der Online-Nutzung geht es um »Click-Rates«, also darum, welche Programme angeklickt werden, wobei – eine weitere willkürlich Festlegung – erst einmal definiert werden muss, ab wie vielen Sekunden Verweildauer ein angeklicktes Programm dann auch als »genutzt« gilt. Man hat sich auf 10 Sekunden geeinigt. Es handelt sich dabei also streng genommen um einen binären Wert (angeklickt: Ja/Nein), wogegen die lineare Ausstrahlung differenzierter vermessen wird, insbesondere in Hinblick auf die Sehdauer.
Ein skurriles Beispiel für die Inkompatibilität der Messwerte lieferte – unfreiwillig – der SPIEGEL, als er die Ergebnisse eines ARD-Programms mit dem eines Netflix-Spielfilms verglich:
»Bei Netflix knallen die Korken, bei der ARD herrscht Katerstimmung. Dabei waren beide TV-Anbieter mit ähnlichen Produkten in die Weihnachtsoffensive gegangen: Während beim Streamingdienst mit »Glass Onion: A Knives Out Mistery« die glossy aufgemotzte Instagram-Variante eines Agatha-Christie-Mörderrätsels (Influencer und Tech-Milliardäre inklusive) zum Abruf bereitstand, versuchte der ö/r Senderverbund sein Publikum mit einer Richtung Koma gedimmten Krimi-Retro-Schnurre aus dem Weihnachtswochenende zu schaukeln (Landadel-Geschnorchel und Backenbart inklusive). Für Netflix ging die Rechnung offenbar auf: Auf Platz eins der am meisten gestreamten Netflix-Angebote steht nun »Glass Onion« – direkt gefolgt von dem 2019 erschienenen Vorgängerfilm »Knives out«. Der »Tatort« im Ersten brachte es indes nur auf 4,09 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern (sic!) – laut dem Branchendienst DWDL die schlechteste Quote seit über 15 Jahren. Netflix veröffentlicht keine konkreten Zahlen, aber das ARD-Quotendebakel beim eigentlich in der Publikumsgunst unverwüstlichen Krimiklassiker lässt darauf schließen, dass tatsächlich viele ARD-Couch-Potatoes am Weihnachtswochenende zu Netflix abgewandert sind.«[21]
Wohlgemerkt: Netflix legt keine konkreten Zahlen vor, dennoch wird vom SPIEGEL ein Reichweiten-Triumph ausgerufen. Wie ja überhaupt Netflix in der Regel keine konkreten Zahlen veröffentlicht. Oder nur, wenn sie Netflix genehm sind. Nun ist es keine Neuigkeit, dass der SPIEGEL ebenso wie die Springer-Medien jede Gelegenheit nutzen, auf die ö/r Sender einzudreschen, schließlich stehen die beiden Konzerne mit ARD und ZDF im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Werbegelder. Oder anders gesagt: Vier Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer als »Quotendebakel« abzutun, das muss man angesichts eigener sinkender Auflagen erst mal fertigbringen. Aber die Erfolgsmeldung eines Streamingdiensts, die auf dem – vollkommen intransparenten – Vergleich mit anderen Programmen der gleichen Firma beruht, kritiklos weiterzuverbreiten, ist entweder naiv oder bösartig, zweifellos lächerlich und unter dem Niveau eines Nachrichtenmagazins. Aber wie auch immer: Symptomatisch ist die zitierte Meldung dennoch und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen zeigt sie, dass beim Sprechen über Zuschauerzahlen ständig Äpfel mit Birnen verglichen werden, ohne dass genau gefragt wird, wie die Zahlen zustande kommen und was sie eigentlich aussagen. Und zum anderen belegt das Zitat, dass Netflix derzeit, wie alles, was streamt, als hip und angesagt gilt. Und wer vom Zeitgeist nicht abgehängt werden will, möchte auf der der Seite der Sieger bzw. Streamer stehen.
Auch wenn die offiziellen Verlautbarungen ganz anders klingen: Senderintern ist der Marktanteil im linearen Programm nach wie die gültige Währung, die oft über die Fortsetzung einer Reihe oder über Folgeaufträge für Kreative entscheidet.[22]
Es ist daher nicht erstaunlich, dass durch einen sich selbst verstärkenden Prozess die Einstellung zur Reichweite eine sportive Note bekommt: Citius, altius, fortius[23]. Vor allem altius. Übrigens wird dieses Denkmuster auch und gerade von den sogenannten Qualitätsmedien gefördert. Hier eine kleine Schlagzeilen-Blütenlese aus den vergangenen 12 Monaten (Hervorhebungen von mir, A.S.):
»ZDF-Krimi ›Kolleginnen‹ liegt vorne«
(FAZ.NET 30.10.2022)
»Bundesliga-Start ist Quotenchampion im TV«
(Süddeutsche Zeitung 6.8.2022)
»Ranking der ARD-Dritten. RBB-Fernsehen holt die rote Laterne. Der RBB kommt bei den Marktanteilen im Vergleich mit den übrigen Dritten auf den letzten Platz. Strahlender Gewinner ist der MDR«
(Tagesspiegel 21.12.2021)
»TV-Einschaltquoten am Feiertag. ›Rumpelstizchen‹ schlägt ›Winnetou‹«
(spiegel.de 4.10.2022)
»Nations-League-Spiel entscheidet Quoten-Rennen für sich«
(ZEIT.ONLINE 24.9.2022)
Der ständige Einsatz dieser Metaphern aus der Welt des Sports führt zu einer Verabsolutierung eines einzigen Werts, eben des durchschnittlichen Marktanteils. Gegebenenfalls, sofern es ins Konzept passt, auch der Wert innerhalb einer bestimmten, willkürlich bestimmten Altersgruppe.
Dies führt zu einer Verengung des Wertsystems, denn es verleitet dazu, immer und um jeden Preis den maximalen Marktanteil anzupeilen. Es spielt keine Rolle, auch nicht für die begleitende Kritik, auf was ein durchschnittlicher Marktanteil beruht. Auf selbstentwickelten, originellen, differenzierenden, langfristig im Gedächtnis bleibenden und möglicherweise sogar die Gesellschaft positiv beeinflussenden Programmen? Auf internationalen Formaten? Oder auf der Perpetuierung des Immergleichen? Verstärkt wird die sportliche Rhetorik durch die Tatsache, dass die Ergebnisse des linearen Programms spätestens am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch der Verantwortlichen landen und simple, binäre Resultate liefern (Erfolg/Misserfolg). Natürlich sind die Zahlen mehr als fragwürdig, genau wie Uni-Rankings oder der olympische Medaillenspiegel. Aber sie sorgen für Spannung.
Der frühere SAT.1-Geschäftsführer Roger Schawinski hat das Quotenfieber einmal eindrücklich und selbstentlarvend beschrieben:
»Es ist acht Uhr früh. Die Spannung steigt mit jeder Minute. (…) In wenigen Augenblicken – hoffentlich – ist es soweit.
8.08 Uhr. Jetzt! Auf meinem Handy ist überlaut hörbar eine Nachricht eingegangen. Ich bemühe mich, langsam nach dem immer in Reichweite liegenden Gerät zu greifen, doch dann wird es jedes Mal eine hastige Bewegung. (…) Was erwartet mich heute? Sind unsere Erwartungen eingetroffen? Oder ist es wieder eine Enttäuschung? Oder gibt es gar endlich wieder positive Überraschungen? In einer Sekunde werde ich die Antwort zumindest in Umrissen kennen.
Ich drücke die Taste und ich fühle, wie mein Pulsschlag und mein Adrenalinpegel gleichzeitig in die Höhe schnellen. Vor mir präsentieren sich die Tagesmarktanteile aller größeren Sender (…). Das Resultat ist augenblicklich auf meinem Gesicht und an meiner Körpersprache abzulesen (…).«[24]
Wer glaubt, so gehe es nur bei Privatsendern zu, täuscht sich. Es ist eben ungleich packender, schon wenige Stunden nach Präsentation eines Programms das (vermeintlich) eindeutige Ergebnis vorliegen zu haben, als Monate oder Jahre später eine nach unterschiedlichen Parametern differenzierte Auswertung vorzunehmen, inklusive Fragen nach der Repertoirefähigkeit, nach dem stilbildenden Einfluss auf zukünftige Programme sowie, vor allem und heute wichtiger denn je, nach dem Mehrwert fürs Image.
Die sportive Dimension bei der Erfolgsmessung führt natürlich auch dazu, dass niemand, der oder die Verantwortung fürs Programm trägt, zu den Verlierern gehören möchte. Es ist absurd: Das ö/r Sendersystem bekommt aus den TV-Beiträgen derzeit jährlich ca. 8,57 Milliarden Euro[25] und in den Sendern scheint man auf eine Zahl, eine einzige Zahl fixiert zu sein, den durchschnittlichen Marktanteil. Wer die größere Zahl vorzuweisen hat, ist Sieger, gleichgültig wie und mit was. Das gilt für die Konstellation ZDF gegen ARD, gilt ebenso für die Dritten Programme gegeneinander und gilt auch für die kleinen Sender, die unter allen Umständen vermeiden müssen, dass eine Null vor dem Komma steht, wenn am Jahresende die Rechnung, sprich: der durchschnittliche Marktanteil präsentiert wird. Der traditionelle Wettstreit um Zahlen ist auch deshalb absurd, weil der durchschnittliche Marktanteil ja kein absoluter, naturgegebener, kontextfreier und unveränderbarer Wert wie die Körpergröße eines Menschen ist, sondern ein Konstrukt, eine Messgröße, die, von der Medienforschung definiert, auf Hochrechnungen und Testhaushalten beruht.[26] Um einen Eindruck zu geben, welch komplizierte Rechenoperationen vonnöten sind, bis sich die scheinbar objektiven, wie von selbst ergebenden Zahlen herauskristallisieren, hier ein Zitat aus einer Verlautbarung der AGF Videoforschung, die im Auftrag von Fernseh‑ und Streaminganbietern die Reichweiten des Bewegtbildmarkts in Deutschland erfasst:
»Panel‑ und Zensusmessung werden über ein statistisches Verfahren (Kalibrierung) zueinander in Beziehung gesetzt. Die Datensätze (Panels + Zensus) werden nach der Kalibrierung in einem aufwendigen Verfahren von der AGF fusioniert, wodurch eine konvergente Reichweite entsteht.«[27]
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass, wenn einem Programm wie beispielsweise dem von ARTE ein durchschnittlicher Marktanteil von 1 % zugeordnet wird, der Eindruck entsteht, dass nur 1 % der Bevölkerung vom Programm erreicht wird.[28] Das ist natürlich ein Trugschluss und nachweislich falsch, wie man bei einer Blitzumfrage im Freundeskreis, in der Nachbarschaft und in der Familie schnell herausfinden kann. Vielmehr berechnet sich der durchschnittliche Marktanteil aus der Nutzung des Programms zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein Programm, das jeden Tag mit gänzlich unterschiedlichen Themen aufwartet und daher jeden Tag ganz unterschiedliche Interessensgruppen anspricht, muss deshalb – eine weitere Absurdität – mit einem echten rechnerischen Nachteil leben.
Zusammenfassend ergibt sich für die Öffentlich-Rechtlichen folgende Problemlage: Mehr denn je sind die ö/r Sender in der Defensive. Die Finanzierung durch den Rundfunkbeitrag, also durch die von allen zu bezahlenden Beiträge, wird zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig steht das eingespielte System des linearen Fernsehens, inklusive seiner Werte und Erfolgskriterien, absehbar vor dem Ende.[29] Und mit den Streamingdiensten ist eine völlig neuartige Konkurrenz aufs Spielfeld gekommen, die den ö/r Sendern an Innovationskraft und Attraktivität den Rang abläuft und sie alt aussehen lässt.
Abschließend möchte ich eine Liste von konkreten Vorschlägen formulieren. Es geht mir dabei nicht um verfassungsrechtliche oder gremienpolitische Überlegungen[30], sondern um Ideen und Initiativen aus der Perspektive des Programms.
In der digitalen Welt ist die Markenbildung bereits heute essenziell, wenn nicht existenziell. Denn als ZuschauerIn weiß man meist nicht, in welchem Programm man welche Sendung gesehen hat.[31] Die automatische Identifizierung von einzelnen Programmen mit Sendernamen wird anstaltsintern jedoch noch immer notorisch überschätzt. Aus der Sicht derjenigen, die das Programm produziert haben, ist das verständlich, aber falsch. In der linearen Welt der 80er und 90er Jahre konnte man noch davon ausgehen, dass viele Sendungen zweifelsfrei gebrandet waren, als Programme der ARD oder des ZDF beziehungsweise der Privatsender. Diese Zeit ist vorbei. Schon aufgrund der sich explosionsartig vermehrenden Programmangebote ist es unmöglich für NutzerInnen, auch nur halbwegs den Überblick zu behalten. Investitionen in Imagekampagnen und Marketing-Strategien sind für die Sender sicher sinnvoll, um das Erscheinungsbild aufzupolieren und Programme mit Sendern zu assoziieren. Aber wirkungsvoller wäre eine Spezialisierung. Wie die Universitäten, bei denen nur durch Schwerpunktbildung Spitzenforschung ermöglicht und Profil gewonnen werden kann, müssten sich auch die Sender ausdifferenzieren, um unterscheidbar zu werden und ihr Image zu schärfen. Das widerspricht dem Anspruch der Sender, prinzipiell alles anzubieten (und den anderen nichts zu gönnen). Genau diese Grundhaltung führte etwa dazu, dass zum Beispiel die beiden großen ö/r Sender am 19. September 2022 simultan und über Stunden die Trauerfeier für Queen Elizabeth zeigten, was zu Recht Anlass zu heftiger und systemischer Kritik gab. Ganz besonders wichtig wäre eine Spezialisierung für die Dritten Programme der ARD, die sich zunehmend ähneln, da sie oft Programme voneinander übernehmen, aber darauf bestehen, als selbständige Vollprogramme zu gelten.[32] Auch müssen die Sender alles dafür tun, dass ihre Programme exklusiv bleiben und nicht der Konkurrenz zugeschrieben werden, wie dies etwa bei den Filmen »Und morgen die ganze Welt« und »Je suis Karl« geschah, die, obwohl sie von mehreren ARD-Sendern und ARTE bei der Entstehung unterstützt, mitfinanziert und mitentwickelt wurden, dann aber, als sich Festivaleinladungen (Berlinale, Venedig) und eine mögliche Oscar-Nominierung abzeichneten, zur Vorabnutzung an Netflix verkauft wurden. Verständlich aus Sicht der Produzenten, aber fatal für die Sender. Denn die Berichterstattung über die beiden politisch brisanten Filme erweckte den Eindruck, es handle sich um genuine Netflix-Produktionen, an die sich, so die explizite oder unausgesprochene Unterstellung, ö/r Sender nie heranwagen würden. Hat man je davon gehört, dass der umgekehrte Fall eingetreten wäre, dass also eine Netflix-Eigenproduktion zuerst in ARD oder ZDF zu sehen war? Wobei: Dem ORF ist dies schon mindesten zwei Mal gelungen, als er sich gegenüber Netflix die Premiere sowohl für »Freud« als für »Totenfrau« sicherte. Wie, so fragt man sich, haben die Österreicher das nur hinbekommen?
Eine tabubrechende, aber vertrauensbildende Maßnahme wäre die totale Kostentransparenz der ö/r Sender. Wenn es eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Gehälter von Ministerinnen und Bundeswehr-Generälen für alle Interessierten leicht zu recherchieren sind, spricht doch eigentlich alles dafür, dass auch die Sender offenlegen, wer wie viel verdient und vor allem, was einzelne Sendungen kosten. Totale Transparenz hätte den Vorzug, dass sich die Sender nicht mehr permanent dem Verdacht der Geheimniskrämerei aussetzten und misstrauischen Fragern der Wind aus den Segeln genommen wäre. Manche kritische Stimme würde womöglich verstummen, wenn detailliert nachvollziehbar wäre, welcher sachliche und personelle Aufwand tatsächlich notwendig ist, um eine Live-Sendung zu stemmen oder eine Fiction-Serie in Szene zu setzen. Und vorauseilende Transparenz würde zudem wohl von vornherein Exzesse, wie sie zuletzt beim RBB mit Boni, Massagesitzen und Luxuslimousinen die Öffentlichkeit empörten, gar nicht erst entstehen lassen.
Die Strukturen der Sender sind über Jahrzehnte gewachsen und somit sind die Anstalten den in der Verwaltungstheorie vielfach beschriebenen, offenbar unvermeidlichen Weg zu Bürokratisierung, Hierarchisierung und Ineffizienz gegangen. Ideen und Vorschläge dafür, wie diese Strukturen aufzubrechen wären, liegen, auch in den Sendern selbst, bereit. So funktioniert die Mittelzuweisung nach uralter kameralistischer Tradition wie bei preußischen Verwaltungen im 19. Jahrhundert, mit allen Nachteilen wie dem berüchtigten Dezemberfieber, das niemandem eine andere Wahl lässt, als Ende des Jahres möglichst alle noch nicht verbrauchten Mittel auszugeben, meist sinnfrei, nur damit sie im darauf folgenden Jahr nicht gekürzt werden. Ist die Abrechnung nach Kalenderjahren wirklich ein Naturgesetz? Und warum soll es nicht auch im ö/r System Erfolgsgratifikationen geben können – nicht für die einzelnen MitarbeiterInnen, aber für Abteilungen. So hätte ich es als motivierend empfunden, wenn meine Redaktion bei ARTE für den Welterfolg unserer Koproduktion »Lola rennt« Anerkennung in Form zusätzlicher Programmmittel erhalten hätte (aber bitte den Erfolg nicht nur am Marktanteil einzelner Programme bei der Erstausstrahlung messen, siehe oben). Oder sind wirklich für jedes Projekt all die komplizierten und zeitraubenden Genehmigungsverfahren erforderlich, an die sich alle gewöhnt haben, mit Kalkulationsverhandlungen, Bankbürgschaften und Dutzenden von Unterschriften? Mein früherer Chef beim Kleinen Fernsehspiel des ZDF, Eckart Stein, erzählte mir einst, dass bei der Einführung des vereinfachten Produktionsmodells des sogenannten »Kamerafilms« von einer Verlustquote von 20 % der Projekte ausgegangen worden war, da dort keinerlei Sicherheiten und auch keine Kalkulationen verlangt wurden. Bis heute, über 50 Jahre später, wurde keine einzige Produktion nicht abgeliefert und gesendet. Ist der ganze Aufwand also gerechtfertigt?[33] Dass die Transformation des Behördencharakters der Anstalten schier übermenschliche Anstrengungen erfordert, ist klar, aber es führt kein Weg daran vorbei.
Ein Blick in das Programm von ö/r wie privaten Sendern zeigt, dass fast alle Programme nationalen Ursprungs sind (mit Ausnahme amerikanischer Spielfilme, skandinavischer Krimis und angelsächsischer Dokumentationen). Die Globalisierung ging an den Sendern glatt vorbei. Im Gegenteil: Es gab früher sogar noch mehr Koproduktionen mit den Niederlanden, mit Frankreich, Italien und Spanien, zumindest im Bereich der Fiktion. Selbst wenn Programme von anderen Ländern und Kontinenten handeln, sind sie aus deutschem Blickwinkel gedreht und auf deutsche Art und Weise erzählt. Welche Verarmung, wenn man das zum Beispiel mit dem Angebot eines Festivals wie Cannes vergleicht, wo man Filme nicht über, sondern aus Algerien, Korea oder Mexiko zu sehen bekommt. Netflix macht das anders und hat sich nicht zuletzt durch seine Weltoffenheit und internationalen Koproduktionen den Ruf erworben, ein aufregenderes, vielfältigeres und auch moderneres Programm zu bieten.
Das Neben‑, Über‑ und Durcheinander von klassischen und Online-Abteilungen gehört sicher zu den größten strukturellen Problemen der Sender. Ich habe bei ARTE erlebt, wie über Nacht die sogenannte Internet-Direktion aufgelöst wurde und das Personal in die bereits existierenden Programmbereiche integriert wurden. Von da ab gab es nur noch vier Bereiche: Information, Kultur, Wissen und Fiktion, die sich um die Inhalte kümmerten, gleich auf welchen Ausspielungswegen. So macht man das in Frankreich. Par ordre du mufti, schnell und ohne den Einsatz von Arbeitsgruppen und Beratern. Und wenn es nicht funktioniert, macht man es eben wieder rückgängig. Die vielbeschworene Fehlerkultur, so sieht sie aus.
Eines haben das Privatfernsehen und die Streamingdienste den ö/r Anstalten auf alle Fälle voraus: Schnelligkeit. Man erinnert sich an die Anfangszeit von RTL plus, als Senderchef Helmut Thoma auf Zuruf ganze Serienstaffeln genehmigte. Und selbstverständlich gibt es auch bei Netflix ein sehr schnelles O.K. für neue Projekte. Konzernboss Reed Hastings schaut, wie mir ein früherer Kollege berichtete, schon mal im Büro seiner MitarbeiterInnen in Amsterdam auf einen Kaffee vorbei, um sich auf kürzestem Weg ein Bild von der Stimmung unter seinen MitarbeiterInnen zu machen und Probleme zu lösen, bevor sie überhaupt virulent werden. Wenn bei den Öffentlich-Rechtlichen Trägheit zu konstatieren ist, liegt dies in der Regel nicht an Unwilligkeit oder Unfähigkeit der Menschen in den Anstalten (wie kurzfristige Live-Berichterstattungen in bestechender Qualität von den Brennpunkten dieser Welt täglich beweisen), sondern an den Strukturen. An den umständlichen Genehmigungsprozeduren etwa muss die Axt angesetzt werden, denn letztlich fördern sie eine sich in Deutschland ohnehin epidemisch ausbreitenden Grundhaltung: nämlich sich lieber abzusichern, anstatt Verantwortung zu übernehmen.
Das ö/r System ist darauf angelegt, Risiken zu minimieren, ganz gleich ob es um die Absicherung gegen Kostenüberschreitungen bei Dreharbeiten, um Jugendschutzbestimmungen oder, besonders folgenreich, um drohende Durchschnittssenker geht. Für ein Versicherungsunternehmen ist eine solche Geisteshaltung sicher förderlich, bei einem Unternehmen der Kulturindustrie aber ebenso sicher nicht. Auch hier muss gesagt sein: Es gibt genügend mutige Menschen in den Sendern, auf allen Ebenen. Aber man hat eben doch den Eindruck, dass die Risiko-Kultur in den Sendern nicht gefördert, sondern häufig sogar eher unerwünscht ist (»Da halten wir uns mal ganz bedeckt«). Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, wird nicht belohnt. Dabei sind es doch gerade die (manchmal sogar im strafrechtlichen Sinne, siehe Böhmermann) riskanten Programme, die für Aufsehen sorgen. Und das geheime Elixier für große Erfolge, namentlich im Bereich der Fiktion, sind, das ist nun fast ein Naturgesetz, gewagte Ideen. Leider drohen diese oft schon im Vorfeld durch Bedenkenträgerei torpediert zu werden, obwohl doch die Kollision zweier Vorstellungswelten oder Sphären (Berufsmilieus, Kulturen, Generationen, Schichten, Ideologien etc.) Steilvorlagen liefern für Erkenntnisgewinn, der auch noch Spaß macht.[34] Nicht umsonst funktionieren Komödien sehr häufig nach diesem Prinzip. Einige erfolgreiche Beispiel aus der Filmgeschichte gefällig? In »Ganz oder gar nicht« (»The Full Monty«) versuchen sich arbeitslose Stahlarbeiter aus Nordengland, teils älteren Semesters, teils übergewichtig, als männliche Stripgruppe à la »Chippendales«. Im Pixar-Animationsfilm »Ratatouille« zeigt ausgerechnet Rémy, eine Wanderratte, großes Talent als Feinschmecker und Küchenchef und verhilft einem Pariser Restaurant zu den höheren Weihen der Spitzengastronomie. Und in »Reine Nervensache« (»Analyze This«) leidet ein New Yorker Mafia-Boss (Robert De Niro) unter Angstzuständen und Potenzproblemen, worauf er einem Society-Psychiater (Billy Crystal) das Angebot macht, sich von ihm therapieren zu lassen, was dieser nicht ablehnen kann… Das Undenkbare denken, anstatt auf Nummer sicher zu gehen.
Natürlich geht es nicht ohne Reichweiten-Erfassung. Sender, Produktionsfirmen und Öffentlichkeit möchten wissen, ob Programme gesehen werden und von wem und wie lange. Aber es ist hohe Zeit, Abschied zu nehmen nicht nur vom alleinseligmachenden durchschnittlichen Marktanteil (siehe oben), sondern auch vom tumben Erfolgskriterium Marktanteil bei der Erstausstrahlung. Stattdessen wären zusätzliche und differenzierende statt der oben beschriebenen Zählweisen und Messwerte vermehrt zu berücksichtigen.[35] Für ARTE zum Beispiel wird bei der Erfolgsmessung nie in Rechnung gestellt, dass der Sender sich ja an zwei Publika in zwei Ländern richtet (was erhebliche programmplanerische, linguistische und den Rechteerwerb betreffende Wettbewerbsnachteile mit sich bringt). Die Zahlen werden immer nur getrennt nach Ländern gewertet, anstatt addiert zu werden. Der Kinderkanal zielt logischerweise auf ein ganz bestimmtes Alterssegment, das im Test-Panel der Medienforschung unvermeidlich unterrepräsentiert ist. Die Programme der Dritten peilen auftragsgemäß ein regional begrenztes Publikum an, weswegen die Reichweiten mit den Zahlen von ZDF oder RTL gar nicht vergleichbar sind. Und schließlich bleibt meist ganz unberücksichtigt, ob ein Programm nur einmal (Live-Sportereignisse, Casting-Shows), sporadisch (Event-Movies) oder langfristig und vielfach rezipiert werden kann. Um ein spektakuläres Beispiel anzuführen: Dominik Grafs legendäre und epochemachende Serie »Im Angesicht des Verbrechens« von 2010 wurde bei der Erstausstrahlung von der koproduzierenden ARD als Misserfolg angesehen, weil sie auf dem »Tatort«-Wiederholungsplatz am Freitag geringere Reichweiten erzielte als die dort sonst gezeigten, etablierten, abgeschlossenen Krimis. »Im Angesicht des Verbrechens« wird aber bis heute eingesetzt und die gesamte Serie mit allen zehn Teilen kam bisher auf über 40 (!) Ausstrahlungen im deutschsprachigen Raum.
Die Lebenserfahrung lehrt, dass sich Menschen sowohl nach dem Rituellen wie auch nach Abwechslung sehnen, nach Geborgenheit wie nach Abenteuer, nach Heimeligem ebenso wie nach Exotik. Die Eigendynamik der Programmplanung jedoch stärkt eher das Konventionelle und Vorhersehbare. In den Hierarchieebenen der Sender dominiert die Grundüberzeugung, dass Publikum eher mit Repetition und Regelmäßigkeit zu gewinnen ist. Das ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, wie etwa die Daily Soaps belegen, bei denen von Produktionsseite ein langer Atem gefragt ist. Aber Konformität stellt sich von selbst ein, das ist systemtheoretisch bedingt. Umso wichtiger ist es, sich gegen diese Tendez zu stemmen, indem man Überraschungen und die Provokationen privilegiert, damit die Balance gewahrt bleibt.
Schließlich: Die ö/r Sender müssen aus der Defensive kommen. Gegenüber politischen Anwürfen ist es zweifellos unvermeidlich, sich zu rechtfertigen. Aber angesichts der neuen und in vieler Hinsicht überlegenen Konkurrenz durch die Streamingdienste genügt es nicht, auf Bundesverfassungsgerichtsurteile, die Zwänge des Föderalismus und den gesetzlich garantierten Pluralismus zu verweisen. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen offensiver, mit mehr Selbstbewusstsein und langfristig ihre spezifischen Stärken herausstellen: Unabhängigkeit, Vielfalt, Erfahrung, Kompetenz. Sie müssten sich viel deutlicher den potenziellen NutzerInnengruppen zuwenden, namentlich den jungen Leuten zwischen 20 und 40, die sich nicht von ihnen angesprochen fühlen, weil sie in der Primetime keine lohnenswerten Programme finden (wie mir die Studierenden in meinen Seminaren regelmäßig und unmissverständlich klarmachen). Und weil sich dieser Eindruck verfestigt, schauen sie sich auch gar nicht mehr in den Mediatheken um, obwohl sie dort mit Sicherheit fündig würden, siehe die oben genannten Beispiele für originelle Programme und siehe die unfassbare Zahl von 200.000 Programmen in der ARD-Mediathek. Relevante und brisante Programme haben die ffentlich-Rechtlichen ja in Hülle und Fülle zu bieten. Man weiß nur kaum davon. Wie schade!
Als ö/r Redakteur war ich fast 40 Jahre mit der Deutschen Bahn unterwegs, kreuz und quer durch Deutschland, von Mainz über Wuppertal bis Plön und von Kehl über Erfurt bis Chemnitz. Wie die Deutsche Bahn ist auch der ö/r Rundfunk hochkomplex und heftiger Konkurrenz ausgesetzt, beide werden permanent – und oft zu Recht – kritisiert und sind in die Jahre gekommen. Sie müssen deshalb dringend generalüberholt werden. Aber beide Kommunikationssysteme, Eisenbahn wie ö/r Rundfunk, haben ein solides Fundament, nämlich eine großartige Idee! Und sie sind, wenn man das große Ganze in den Blick nimmt und seinen Ärger über Unzulänglichkeiten einen Moment vergisst, unentbehrlich.
Prof. Dr. Andreas Schreitmüller war von 1984 – 1991 Redakteur beim ZDF und seit der Gründung 1991 bis zu seinem Ruhestand 2021 bei ARTE Hauptredaktionsleiter für Spielfilme und Fernsehfilme. Er war redaktionell für zahlreiche Filme und Serien verantwortlich, so u.a. für »Good Bye, Lenin!«, »Das Leben der Anderen«, »Im Angesicht des Verbrechens« und »Bad Banks«. Seit 2000 ist er Honorarprofessor für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz.
Bernard, Andreas: Geschlossene Systeme (Rezension von Habermas 2022), Süddeutsche Zeitung 15.9.2022
Buhrow, Tom: Wir müssen die große Reform wagen. Der ö/r Rundfunk braucht keine Sparrunden. Er braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Wie sähe der aus? Frankfurter Allgemeine Zeitung 3.11.2022
Habermas, Jürgen: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp 2022
Kittler, Friedrich: Fernsehdämmerung. Unveröffentlichtes Manuskript zu einem Vortrag beim Colloque ARTE am 29. und 30.9.1993 im Goethe Institut
Koestler, Arthur: The Act of Creation. London: Hutchinson 1965 (deutsche Übersetzung: Der göttliche Funke: der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern u.a.: Scherz 1966)
Müggenburg, Jan (Hg.): Reichweitenangst. Batterien und Akkus als Medien des Digitalen Zeitalters. Bielefeld: transcript 2021
Schawinski, Roger: Die TV-Falle. Vom Sendungsbewusstsein zum Fernsehgeschäft. Zürich: Kein & Aber 2007
Schreitmüller, Andreas: Regeln mit Ausnahmen. Ansichten und Erfahrungen eines TV-Redakteurs. In: grimme 2012, S. 31 -33
Schreitmüller, Andreas: Einzelprogramm – Programmfluß – Programmangebot: Vom Redakteursfernsehen zum Zugriffsmedium. In: Joachim Paech, Andreas Schreitmüller, Albrecht Ziemer (Hg.): Strukturwandel medialer Programme. Vom Fernsehen zu Multimedia. Konstanz: UVK 1999, S. 141 – 153
Schwarzkopf, Dietrich: Rundfunkpolitik in Deutschland (2 Bände). München: dtv 1999
spiegel.de 27.12.2022, 13.24 Uhr (Autor: Christian Buß): Weihnachtshit »Glass Onion«. Netflix glücklich, Regisseur erzürnt.
Süddeutsche Zeitung 20./21. August 2022, S. 15f (AutorInnen: Aureli von Blazekovic, Philipp Bovermann, Kathleen Hildebrand, Tobias Kniebe, Adrian Kreye, Cornelius Pollmer, David Steinitz, Hannes Vollmuth): Das Netflix-ABC.
[1] Siehe SCHWARZKOPF 1999, Band 1, S. 438
[2] Als die Verfügbarkeit der terrestrischen Frequenzen nicht mehr kriegsentscheidend war, wurde 1999 das Mainzer Sendezentrum freilich aufgegeben und der Firmensitz nach Berlin verlegt, bis der Sender zehn Jahre später erneut umzog, nach Unterföhring bei München.
[3] »Musks Gebaren als Twitter-Eigner demonstriert derzeit einem Millionenpublikum, wie funktional das Verhältnis des radikal libertären Multimilliardärs zur Öffentlichkeit ist. ›The bird is freed‹, ›der Vogel ist befreit‹, waren die Worte, mit denen er sich selbst als neuen Chef des Messenger-Dienstes feierte. Kurz darauf ließ er den amerikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump nach langer Sperre wieder auf Twitter zu; dann veranlasste Musk, die Accounts kritischer Journalisten zu sperren.« (Süddeutsche Zeitung 30.12.2022, S. 18).
[4] DIE ZEIT Nr. 16 vom 13.4.2023
[5] spiegel.de (2002), Axel-Springer-Chef Döpfner soll „Bild“-Kampagne gegen Adidas initiiert haben, 15. September, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/mathias-doepfner-axel-springer-chef-soll-bild-kampagne-gegen-adidas-initiiert-haben-a-2b0d0502-e14d-407a-9e94-dbe5c3900365 (aktuell zuletzt am 23.09.2023). Mit fehlt keineswegs die Phantasie, mir auszumalen, was in den Springer-Medien losgewesen wäre, wenn sich in einer ö/r Redaktion eine solche Vermischung privater Interessen mit journalistischen Aktivitäten hätte nachweisen lassen.
[6] theguardian.com (2023), Murdoch feared Fox News hosts went ‘too far’ on Trump election lie, files show, 08. März, https://www.theguardian.com/media/2023/mar/08/rupert-murdoch-fox-news-hosts-2020-voter-fraud-claims-dominion-voting-systems-court-filing (aktuell zuletzt am 23.09.2023)
[7] Das gilt genauso übrigens auch für andere Milliardäre wie etwa für Peter Thiel, der derzeit allerdings über keine eigene Plattform verfügt.
[8] Interessanterweise lernt angesichts der fragmentierten und entgrenzten Öffentlichkeit durch unregulierte Plattformen auch ein kritischer Gesellschaftsanalytiker wie Jürgen Habermas die Qualitäten der klassischen Massenmedien zu schätzen, die ihm in früheren Zeiten noch äußerst suspekt erschienen: »Die Plattformen liefern ihren emanzipierten Nutzern keinen Ersatz für die professionelle Auswahl und diskursive Prüfung der Inhalte (…).« Und: »Wer diesen Zusammenhang durchschaut, erkennt den letztlich autoritären, gegen die Grundlagen einer diskursiven Öffentlichkeit abzielenden Charakter der heute um sich greifenden Kritik an Ausstattung und Programmumfang der ö/r Sendeanstalten.« HABERMAS 2022, S. 38-67, insbesondere S. 46 und S. 67, sowie BERNARD 2022.
[9] A propos Beiträge: Der 2022 verstorbene, frühere ZDF-Fernsehfilmchef Hans Janke, der wie kaum ein anderer den ö/r Gedanken präzise und anschaulich begründen konnte, hat mir einmal bei einem Abendessen vorgerechnet, dass man für die BILD Zeitung (ohne BamS), wenn man sie täglich kauft, weitaus mehr Geld ausgibt als für die Rundfunkbeiträge, nämlich monatlich über 30 €. Das ist natürlich, genau wie zwei Maß Bier auf dem Oktoberfest, derzeit 25,20 € eine freiwillige Ausgabe im Gegensatz zum Rundfunkbeitrag von 18,36 €, aber der Vergleich macht deutlich, welcher Betrag hier zur Diskussion stehen und was man im Gegenzug dafür bekommt.
[10] Süddeutsche Zeitung 31.12.2020
[11] Siehe hierzu ausführlicher SCHREITMÜLLER 2012.
[12] Auch der allgegenwärtige Musikteppich bei Dokumentationen und Fernsehfilmen zeugt von dieser ständigen Sorge, Publikum zu verlieren. Ebenso das barbarische Beschneiden hochemotionaler Filmenden oder die verkrampften Hinweise auf das komplett heterogene Folgeprogramm. Der Popanz »Audience Flow«, von dessen Nichtexistenz jede(r) aus eigener Nutzungserfahrung weiß, ist nicht totzukriegen.
[13] Meiner ARTE-Kollegin Nicoletta Pittner bin ich für wichtige Informationen zur Medienforschung zu Dank verpflichtet.
[14] Der Begriff steht eigentlich für etwas völlig anderes (nämlich für die Sorge, dass die Akkus von E-Autos, Smartphones etc. nicht lang genug durchhalten, siehe MÜGGENBURG 2021). Aber er passt wunderbar.
[15] Um nicht immer auf die Klassiker aus guter alter Zeit à la »Kir Royal« zurückgreifen zu müssen.
[16] Süddeutsche Zeitung 20./21. August 2022
[17] Süddeutsche Zeitung 10. Mai 2023
[18] Nicht die Marktanteile, sondern die absoluten Zuschauerzahlen werden addiert und erst dann wird die Berechnung des Marktanteils vorgenommen.
[19] Insbesondere, aber nicht nur, wenn sie sich in den Tentakeln der FIFA befinden. Auch bei Spielfilmen, namentlich Produktionen der US-Majors verfügen die Sender oft nicht über die Online-Rechte.
[20] Mitteilung von Benjamin Fischer, Leiter von ARD Online. Natürlich sind hier auch diverse Kurzformate, regionale Inhalte, Magazinbeiträge und Lizenzware mitgezählt, aber trotzdem!
[21] https://www.spiegel.de/kultur/kino/netflix-erfolg-glass-onion-regisseur-rian-johnson-wettert-gegen-geldgeber-a-2dd88b84-fc7c-4e4a-8f61-97fe8b01210c (aktuell zuletzt am 20.08.2023)
[22] Ganz unvernünftig ist diese Denkweise nicht, da noch immer und sicher noch für einige Zeit ein überragender Teil des TV-Konsums bei den ö/r Sendern linear erfolgt. Aber das ist eben eine Binnenperspektive, die der gewaltigen Konkurrenz durch die Streamingdienste nicht Rechnung trägt und auch nicht zukunftsfähig ist.
[23] Deutsch: schneller, höher, stärker.
[24] SCHAWINSKI 2007, S. 11
[25] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163022/umfrage/gesamtertrag-der-gez-seit-2005/ (aktuell zulett am 30.07.2023)
[26] Damit soll keineswegs die Seriosität der mit den ausgefeilten Methoden der Empirischen Sozialwissenschaft arbeitenden Zuschauerforschung in Frage gestellt werden. Es geht nicht darum, wie gemessen wird, sondern was gemessen wird!
[27] https://www.agf.de/bewegtbildforschung/methode/videostreaming (zuletzt abgerufen am 19.1.2023)
[28] Analog spricht das ZDF, als TV-Marktführer des Jahres 2022, natürlich auch nicht nur 14,6 % der deutschen Bevölkerung an.
[29] Friedrich Kittler konstatierte dieses Ende schon 1993, als Bewegtbilder in nennenswertem Umfang digital noch gar nicht gespeichert und übertragen werden konnten: »Der unersetzliche Übertragungsaugenblick ist in Videorecordern verschwunden« (KITTLER 1993).
[30] Dies überlasse ich gerne Berufeneren, wie zuletzt dem WDR-Intendanten Tom Buhrow, der seine Überlegungen freilich als Privatperson, im Überseeclub in Hamburg, anstellte, siehe BUHROW 2022.
[31] Trotz einzelner Sendungstitel wie »ZDF Magazin Royale«, »ARD Buffet« oder »ARTE Journal«.
[32] Und in deren Programme regionale Klischees bis zur Selbstkarikatur aufgewärmt werden, anstatt der Vielfalt, der Kreativität, dem Ideenreichtum und der Lebenslust in der deutschen Provinz Raum zu geben.
[33] Wobei natürlich ein in der Lausitz oder auf der Schwäbischen Alb gedrehter Hochschul-Abschlussfilm und eine »Traumschiff«-Folge, die in der Karibik spielt, unterschiedlich zu behandeln sind.
[34] Der polyglotte Schriftsteller, Gelehrte und Essayist Arthur Koestler hat in seinem überaus inspirierenden Buch »The Act of Creation« an zahlreichen Beispielen gezeigt, dass der Zusammenprall zunächst inkompatibel erscheinender Vorstellungsebenen die Grundlage für jede Form von wissenschaftlicher Erkenntnis, Humor und künstlerischer Kreativität darstellt (KOESTLER 1965).
[35] Zumal sich die ö/r Anstalten ja im Gegensatz zu Netflix auf eine tägliche, wöchentliche, monatliche oder jährliche Erfolgs- bzw. Misserfolgszahl, eben den durchschnittlichen Marktanteil, festnageln lassen.